Mit der Coronakrise blühen wieder Verschwörungstheorien. Viele dieser Theorien mögen auf den ersten Blick merkwürdig und vielleicht auch komisch wirken. Auf den zweiten Blick ist diese Entwicklung keine gute Nachricht für unsere Demokratie.
von Dr. Nikolai Häußermann
Als der Erste Weltkrieg schon längst verloren war, bekamen es die deutschen Generäle der Obersten Heeresleitung mit der Angst zu tun: Wenn nun die Bevölkerung ihnen die Schuld gab? Hatte man die Menschen nicht absichtlich über die wahre Kriegslage getäuscht? Schon seit einiger Zeit kursierte eine Verschwörungstheorie: angeblich hatten die Juden und Bolschewisten in Russland Schuld an der Kriegsniederlage. Diese hätten im Inland die Bevölkerung manipuliert, die so kriegsmüde dem siegreichen Heer in den Rücken gefallen sei. Eine folgenreiche Verschwörungstheorie war geboren: die berühmte Dolchstoßlegende. Sie verhalf einer kleinen, nichtssagenden radikalen Partei in München zu einem Siegeslauf. Immer wieder und immer häufiger verwendete der Redner dieser Partei, Adolf Hitler, die Verschwörungstheorie, um die ihm ergebene „Masse“ an Zuhörern zu beeindrucken. Bis heute fragt man sich, warum die Deutschen so willig diesen Verschwörungstheorien einer doch reichlich zwielichtigen Figur auf der Bühne folgten und darauf basierend ihren eigenen Untergang besiegelten?
Eine Antwort findet sich beim italienischen Philosophen Umberto Eco. In allen seinen Romanen beschreibt er die Karrieren verschiedenster Verschwörungstheoretiker und ihren abstrusen Geschichten. Diese Geschichten könnten den Leser zum Lachen bringen, hätten sie nicht so ernste Spuren in der „echten“ Geschichte hinterlassen. Angefangen vom Narren Baudolino, der den Kaiser Friedrich Barbarossa vom Reich des Priesterkönigs Johannes in Indien überzeugt bis hin zum Testamentfälscher Simonini, dem Ghostwriter hinter den berühmten „Protokollen der Weisen von Zion“. Komisch werden diese Geschichten Ecos immer dann, wenn plötzlich die Verschwörungstheoretiker auf ihre eigenen Produkte treffen. Aus ihren Lügengeschichten wird eine bedrohliche Wirklichkeit. Gerade diese Geschichten haben dazu beigetragen, dass sich eine Geheimgesellschaft der „Templer“ gründet (im Foucaultschen Pendel) oder dass Baudolino sich im im Reich des Priesterkönigs Johannes wiederfindet.
Eco warnt seinen Leser: die Angst ist es, die aus abstrusen und unwahrscheinlichen Geschichten ihre eigene Realität erschafft. Es ist die Angst vor einer unbekannten oder unerwarteten Realität und Zukunft. Statt die banale und oft schmerzhafte Wirklichkeit zu akzeptieren, beispielsweise selbst einen Teil der Schuld an einer Situation zu tragen, ist es wesentlich einfacher, einen mysteriösen und fernen Feind zu erschaffen. Dieser trage die Verantwortung. Die Verantwortung selbst an einer Situation zu übernehmen oder mit einer neuen und unerwarteten Situation umzugehen, bedeutet sein Leben und seine innere Haltung dazu stark zu verändern. Der Philosoph Aristoteles hat in seiner Tragödientheorie genannt, was es dazu bedarf: Jammer, Schaudern und danach eine Katharsis, eine innere „Reinigung“. Statt sich einer solchen schmerzhaften Tragödie hinzugeben, liegt es näher, sich eine geheime Gruppe auszudenken, die alles manipuliert und in der Hand hält. Dadurch muss man sich nicht verändern. Vielmehr erfordert die Situation das, was vielleicht ein innerer Affekt auf einen Schock ist: nämlich Aggression. Der innere Drang, sich zu wehren, notfalls auch mit Gewalt. Es fehlt nur ein Objekt. Genau das liefern Verschwörungstheorien.
Die Verschwörungstheorien der Verschwörungstheoretiker, sprich die Trollfabriken in Russland und China sind das eine. Das andere ist jedoch das günstige Umfeld, auf das diese Theorien treffen. Warum glaubt man beispielsweise einer Geschichte, die auf der abstrusen Annahme beruht, Bill Gates habe die Coronakrise in Szene gesetzt, um mit einer Massenimpfung seine Mikrochips in die Körper der Weltbevölkerung zu verpflanzen. Verschwörungstheorien gehen demnach nicht nur auf die Verschwörungstheoretiker zurück, sondern basieren auch auf der Weigerung, sich einer schmerzhaften Realität auszusetzen. Beispielsweise dass sich unser Leben mit Corona stark und hart verändert hat und sich weiterhin verändert. Verschwörungstheorien bedienen Aggressionen und Gewaltbereitschaft. Kurz, sie radikalisieren und schaffen sich mit harten Mitteln ihre eigene Realität. Meistens endet die Konfrontation mit dem eigenen Produkt nicht so komisch wie in Umberto Ecos Romanen. Es ist deshalb eine Herausforderung für jede Demokratie, mit unerwarteten Situationen wie der Coronakrise umzugehen. Das weiß man in Deutschland vor allem aus der eigenen Geschichte. Die Deutschen waren es, die wie niemand sonst auf dieser Welt einer Verschwörungstheorie und einem Verschwörungstheoretiker erlegen sind. Es ist deshalb gerade unsere Aufgabe in Europa, die Demokraten und Demokratien gegen die Verschwörungstheorien zu impfen.
Die banale und doch schmerzhafte Botschaft dazu lautet: es gibt keine andere Welt hinter dieser Welt, sondern nur diese eine. Es sind keine Verschwörungen, die alles lenken, höchstens die Verschwörung der Verschwörungstheoretiker. Es ist viel banaler: es sind meist die Fehler und Verfehlungen der Menschen oder auch einfach nur ein kleiner und unscheinbarer Zufall, der zu großen, schockartigen Veränderungen in unserem Leben führt. Um die oft banale Realität zu akzeptieren, dazu gehört die ganz und gar nicht banale Überzeugunsarbeit der Demokraten.