Plädoyer für eine demokratische Leitkultur

Veröffentlicht am 26.11.2020 in Standpunkte
 

Die islamistisch motivierten Anschläge in Paris und Wien haben jüngst wieder zu einer Debatte über die Grenzen des sogenannten „Multikulturalismus“ geführt. Neu dabei sind die selbstkritischen Töne aus dem rot-grünen Lager. Zuletzt war sogar von einer Blindheit die Rede. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber doch zu oberflächlich.

von Dr. Nikolai Häußermann

Es ist an der Zeit, neben den linken auch die konservativen Mythen im Verhältnis zum Islam, zum Islamismus und im weitesten Sinne zum Multikulturalismus historisch aufzuarbeiten. Diese Mythen sind es, die einer gesellschaftlichen Integration sowie einer innen- und außenpolitischen Neuausrichtung im Wege stehen. Es ist dringend notwendig, die deutschen Beziehungen zu islamistischen Ideologien und Gruppierungen vor dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart hinein aufzuarbeiten. Jüngst erschienen einige historische Quellenstudien zur politischen Unterstützung des Islam von Seiten des Dritten Reiches gegen den sowjetischen Feind im Osten. Auch über den Zweiten Weltkrieg und das Dritte Reich hinaus gibt es schon einige Arbeiten, die allerdings nur skizzenhaft die Kontinuitätslinien der Unterstützung islamistischer Ideologien und Gruppierungen von deutscher Seite aus entwerfen. Besonders der deutsche Beitrag zur ideologischen Ausarbeitung des Islamismus sowie die deutsche Netzwerkarbeit, die zu einer Übernahme des „islamistischen Projektes“ von Seiten der USA geführt haben, sind mit Quellen weiter auszuleuchten. Gemeinsame Basis von deutscher und amerikanischer Seite zur Unterstützung der islamistischen Ideologien und Gruppierungen war und blieb im gesamten Kalten Krieg der sowjetische Feind. Besonders interessant dürfte von heute aus betrachtet der deutsche Beitrag im Stellvertreterkonflikt zwischen der USA und der Sowjetunion in Syrien in den 70er und 80er Jahren sein. Die Linien zeichnen sich nur grob ab. Sicher ist, dass die Bundesrepublik in Aachen den islamistischen Gegnern des pro-sowjetischen Assad-Clans Unterschlupf gewährte. Der Kampf Assads gegen diese Gruppen wurde auch in Deutschland ausgetragen. Von diesen islamistischen Gruppierungen in Deutschland sind auch deutliche Beziehungen zum Gründervater des globalen islamistischen Projektes zu finden, Siad Ramadan, der sich lange Zeit in Deutschland aufhielt und hier auch seine Promotion abschließen konnte.

Die konservativen Regierungen der Bundesrepublik haben diesen anti-sowjetischen Rammbock wahrscheinlich gefördert. Sie setzten dabei eine Außenpolitik fort, die bis ins Dritte Reich zurückreichte. Vor allem die Kontinuität in den entsprechenden deutschen Ministerien, besonders aber beim BND und dem 1969 aufgelösten Bundesministerium für Vertriebene, sorgten dafür, die im Krieg aufgebauten Beziehungen zur islamistischen Gruppierungen weiterhin zu fördern. Der Umschlagspunkt dieser Unterstützung und Förderung islamistischer Gruppen und Ideologien stellte der Jugoslawienkonflikt dar. Die inoffizielle Beteiligung der Bundesrepublik an den kriegerischen Aktivitäten auf dem Balkan wäre ein interessantes Forschungsfeld für zukünftige Historiker. Deutschland und Österreich stellten dabei wahrscheinlich logistische Zentren zur Unterstützung des islamistischen Widerstandskampfes gegen das serbische Militär dar. Doch der Wahlkampf in den USA 1992 und die katholisch sowie ehemals faschistischen Verbündeten der deutschen Konservativen in Kroatien positionierten sich nicht eindeutig auf Seiten der bosnischen Muslime. Rechte Hardliner begannen nicht nur vor dem Hintergrund einer Annäherung an Russland bzw. dem ehemaligen Sowjetunion gegen die bosnischen Muslime und deren „Jihad-Infrastruktur“ zu polemisieren.

Diese „Jihad-Infrastruktur“ in Richtung Bosnien und Nordafrika erhielt neue Nahrung, nachdem die islamistischen Verbündeten der westlichen Welt eine krachende Niederlage vor Jalalabad (Afghanistan) erfahren mussten. Die Amerikaner hatten zwar kein Interesse mehr an ihrem „Zentralasienprojekt“, doch die Gelder flossen nach wie vor aus privaten und auch öffentlichen Schatullen. Die Fundraisingstrukturen aus dem Syrien- und Afghanistankonflikt brauchten die USA gar nicht mehr als zentralen Geldgeber, sie hatten sich schon viel zu sehr autonom etabliert. Der sowjetische Feind verschwamm, doch die Strukturen blieben. Vor Jalalabad entwickelte sich durch einige zentrale islamistische Propagandisten eine Verschwörungstheorie, in dessen Zentrum die Feindschaft der westlichen Welt und Russlands gegen den Islam stand. Die Jihad-Infrastruktur fand in Europa und in Nordafrika neue Schauplätze, auf denen vor dem Hintergrund der Verschwörungstheorie keine Rücksicht mehr auf die westlichen Partner genommen werden brauchte. Die kulturalistischen Argumente aus dem konservativen Lager vom „Kampf der Kulturen“, der sich ideologisch vor allem auf den Kampf gegen die „Kultur“ des Islam fokussierte, sowie die Feindseligkeiten gegenüber dem „Islam“ in Nordafrika und auf dem Balkan verstärkten die Durchschlagskraft der Jalalabad-Verschwörungstheorie.

Nachdem der sowjetische Feind immer mehr verschwamm, etablierten sich auch in Deutschland die kulturalistischen Bezüge im konservativen Lager. Nicht mehr die Verteidigung gegen den Kommunismus, sondern die Verteidigung der deutschen „Identität“ und „Leitkultur“ stand im Zentrum des Interesses. Sicherlich verstärkte der 11. September solche kulturalistischen Thesen. Auch die Linke hat sich auf diesen kulturalistischen Diskurs eingelassen, indem sie die konservativen Identitätsthesen übernahm und lediglich ein „Multi-“ vor die Kulturen setzte. Das ist beides falsch. Und es gilt nun, von beiden Mythen Abstand zu nehmen.

Die Fokussierung auf Kultur und Identität liegt zwar oberflächlich betrachtet in einer globalisierten Welt nahe, denn zunächst rückt bei einem globalen Blickwinkel der Unterschied in der Lebensweise in den Vordergrund. Bei einem solchen Blick dürfen wir jedoch nicht die Gemeinsamkeiten übersehen: diese bestehen in Problemlagen, die uns nicht als Angehörige einer bestimmten Kultur betreffen, sondern als Menschen. Wir leben zusammen in einer Welt und wir alle zusammen müssen uns gemeinsamen Problemen stellen wie dem Klimawandel, der Coronapandemie oder der ungleichen Verteilung des Reichtums. Wenn wir in einer globalen Welt von Identitäten sprechen wollen, dann sollten wir uns nicht auf unterschiedliche Kulturen, Religionen oder Nationalitäten konzentrieren, sondern auf das, was allen Menschen gemeinsam ist. Das ist keine neue Idee, sondern die Annahme der Universalität einiger zentraler Werte, darunter auch die Demokratie, bildet das Zentrum der Aufklärung. Deutschland kann dabei eine wichtige Rolle spielen im Kampf um eine globale demokratische Leitkultur. Dabei können auch die Konservativen anschließen, denn schließlich geht es darum, unser demokratisches System zu bewahren, indem man es global verteidigt.

Gesellschaftliche Integration von Migranten und Geflüchteten gelingt, wenn wir diese universalen Werte, die im Interesse aller Menschen liegen, in den Vordergrund stellen. Für diese demokratische Leitkultur müssen wir nicht nur innen- und sicherheitspolitisch bereit sein, wehrhaft einzustehen, sondern auch außenpolitisch. Statt den Islam als trennenden Faktor in den Vordergrund zu stellen, hätte Deutschland frühzeitig die „demokratische“ Leitkultur betonen können. Eine gemeinsame politische und militärische Linie mit der Türkei auf der Basis einer demokratischen Leitkultur lag in den 2000ern noch im Bereich des Möglichen. Eine solche Linie hätte sicherlich einen moderierenden Einfluss auf die radikalen Auswüchse des arabischen Frühlings und vor allem auf den syrischen Bürgerkrieg gebracht.

Die pazifistisch orientierten Linken müssen dabei lernen, dass Sicherheitspolitik und das Militär nicht die Feinde sind, sondern sie stellen die zentralen Vehikel einer geglückten Demokratie in einer globalen Welt dar. Deutschland muss lernen, in dieser Welt Verantwortung zu übernehmen. Aber auch die Konservativen müssen Abschied nehmen von ihren kulturalisierenden Mythen. Das Betonen einer „deutschen“ oder einer „christlich-abendländischen Leitkultur“ ist nicht nur historisch falsch, sondern politisch brandgefährlich in einer globalen Welt. Diese Wendung verhindert eine demokratische Leitkultur, die eine positive Integration sowie wichtige innen- und außenpolitische Bündniskonstellationen zur Förderung der Demokratie ermöglicht

 

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